Aylin Kayser (geb. 1982): Ich scheine prädestiniert dafür zu sein, Stühle zu sammeln. Ich habe nie bewusst nach ihnen gesucht, sie haben immer mich gefunden. Besondere Stühle, die mich regelmäßig unter Druck setzten, die Grenzen meines minimalistischen Einrichtungsstils für meine Leidenschaft zum Sammeln zu überschreiten. Ich möchte hier einen dieser Stühle vorstellen..... Es war Liebe auf den ersten Blick - die formale Eleganz, die konsequente Reduktion, die zeitlose Sinnlichkeit, der visionäre Ansatz, den dieser Stuhl verkörpert..... Ich streichle immer noch über die glatte Holzoberfläche und stelle mir vor, wo dieser Stuhl von 1880 überall gestanden haben könnte. Ich fand ihn auf einem meiner Streifzüge durch das Dachgeschoss des alten Fachwerkhauses meiner Großeltern in München. Mein Großvater sammelte alles, was er in die Finger bekam. So wurde der Dachboden immer bis zur Decke mit Funden aller Stilepochen gefüllt. Schon beim Öffnen der Tür zum Dachboden stieg mein Adrenalinspiegel / Puls jedes Mal spürbar an. Als ich diesen Thonet-Stuhl in einer versteckten Ecke fand, konnte ich mein Glück kaum fassen. Den Rest meines Urlaubs verbrachte ich dann in der Werkstatt: Vorsichtig die weiße Farbe entfernt, das kaputte Sitzgitter entsorgt, stundenlang von Hand mit Schleifpapier geschliffen, in der Sauna damit gesessen, um die Holzwürmer abzutöten und Holzleim mit feinsten Spritzen in die Löcher gesprüht.
Bei meiner Abreise präsentierte ich ihn begeistert meinem Onkel, der erstaunt wirkte und sagte, dass der Stuhl ihm gehörte und dass er ihn damals in New York auf einem Flohmarkt gefunden hatte. Zum Glück gab er ihn mir - mit der Bedingung, ihm ein neues Rohrgeflecht zu verleihen und ihn nicht wegzugeben. Zurück in Berlin habe ich mich zunächst für einen Kurs für Restauration angemeldet und das Sitzgitter sorgfältig von Hand erneuert. Mein Stuhl ist der Bugholzstuhl Nr. 18 der Firma Thonet. Er geht auf einen Entwurf des Pioniers für Möbelproduktion und –Design Michael Thonet zurück. Für seine "Konsumstühle" Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte er ein spezielles Verfahren, um sprödes Holz in Gußformen durch Wärme zu biegen. Dieses innovative Verfahren in Kombination mit einem ausgeklügelten Baukastenprinzip - der Stuhl konnte in einer in seine Einzelteile zerlegten flachen Box transportiert werden - revolutionierte das Möbelhandwerk und war einer der ersten industriell gefertigten Stühle.
Der Wiener Kaffeehausstuhl Nr. 14 von Tonet, auf dem die Nr. 18 basiert, hat Weltruhm erlangt, war bis 1930 mit 50 Millionen Einheiten der meistverkaufte Stuhl der Welt und schaffte es sogar bis zum Crystal Palace von Joseph Paxton (Weltausstellung 1851 in London). Im hessischen Frankenberg werden noch heute Thonet-Möbel produziert.